Soeben wurde Deutschlands wichtigster Nachwuchspreis im Berliner Holzmarkt verliehen. Das sind die FIRST STEPS Award 2020 Preisträger·innen – herzlichen Glückwunsch!
Kurz- und Animationsfilm:
INTERSTATE 8.
Regie: Anne Thieme (Kurzspielfilm, 15‘),
Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF
Dazu die Jury: Mit INTERSTATE 8 gelingt Anne Thieme in nur 20 Minuten eine beunruhigend realistische Darstellung beständiger Diskriminierung und Unterdrückung. Im Süden der USA begegnen sich zwei junge Frauen auf dem Rücksitz eines Polizeiautos und merken immer eindrücklicher, dass nicht nur ihre unterschiedliche Herkunft über das Ende der Fahrt entscheidet. Durch reduzierte Dialoge und die bedrückende Enge des Autos als einziger Spielort werden die Ungerechtigkeiten bestehender Machtstrukturen zu jeder Sekunde physisch spürbar. Dabei überzeugt die kammerspielartige Inszenierung in jeder Kameraperspektive, jedem Blick und jeder Geste.
Mittellanger Spielfilm:
LYCHEN 92.
Regie: Constanze Klaue (Spielfilm, 30‘)
Kunsthochschule für Medien Köln
Dazu die Jury: Mit LYCHEN 92 gelingt Constanze Klaue ein feinfühliger und authentischer Blick auf die Vergangenheit. Aus der Perspektive des 12-jährigen Moritz erzählt sie im Mikrokosmos des Zeltplatzes berührend und komisch von den großen und kleinen Konflikten der Nachwendezeit. Dabei gelingt es ihr das gesellschaftlich Große in das persönliche Kleine zu übertragen. Die liebevoll gezeichneten Figuren, die bis ins letzte Detail stimmende Ausstattung und die gekonnte Inszenierung von komischen und herzzerreißenden Momenten machen diesen Film zu einem meisterhaften Seherlebnis.
Abendfüllender Spielfilm:
THE TROUBLE WITH BEING BORN
Regie: Sandra Wollner (Spielfilm, 94′),
Filmakademie Baden-Württemberg
Dazu die Jury: In Sandra Wollners THE TROUBLE WITH BEING BORN wandern Androiden durch dichte, düstere Wälder und triste, graue Wohnsiedlungen, aber vor allem durch lose Erinnerungen und verdrängte Traumata. Hinein in tiefe Abgründe voller Schönheit, Sehnsucht und Schmerz. Im ständigen Wechsel zwischen verstörender Realität und futuristischen Romantizismus. Die Regisseurin ist ein sehr eigener, aufwühlender, aber auch einfühlsamer Film gelungen, der uns unausweichlich mit den großen Fragen des menschlichen Seins konfrontiert. Woher kommen wir, wohin gehen wir? Mit ganz eigener Handschrift und beunruhigender Ästhetik führt sie uns durch eine Geschichte, die nur auf den ersten Blick weit entfernt scheint.
Götz George Nachwuchspreis:
Steven Sowah in: DRECK (Spielfilm, 29‘)
Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF
Dazu die Jury: In DRECK verkörpert Steven Sowah den jungen Iraker Sad, der in Abschiebehaft sitzen muss. In den wenigen Stunden, die ihm bleiben, denkt er über sein Leben in unserer Gesellschaft nach. Der Text, eigentlich ein Theatermonolog wurde hier für den Film adaptiert. Eine große Herausforderung, die ein präzises Verständnis für die unterschiedlichen Anforderungen des Theaterund Filmschauspiels voraussetzt. Steven Sowah meistert diese Herausforderung brillant. Er versteht sein Handwerk genau und findet auf erstaunliche Weise zu jedem Moment die körperliche, stimmliche und emotionale Wahrheit seiner Figur. Darüber hinaus spürt man sein Anliegen als Künstler: Und so trifft sein kompromissloses Spiel und seine klare Haltung wie ein Faustschlag die Doppelmoral unserer Gesellschaft direkt ins Mark. Chapeau, Steven Sowah!
Dokumentarfilm
NEVERLAND
Regie: Erald Dika (Dokumentarfilm, 80‘)
ZeLIG – Schule für Dokumentarfilm, Fernsehen und Neue Medien Bozen
Dazu die Jury: Ein Lotteriespiel. Der Gewinn: die Verdoppelung des investierten Geldes, die Aussicht auf 50 % Zinsen lässt Menschen Hals über Kopf Grund und Boden verkaufen. Das Risiko: Der Gewinn wird nie ausgezahlt. Am Ende der Kollaps, ein Land im Ausnahmezustand. Der Pyramidenaufstand in Albanien 1997. Anarchie, die Männer plündern die Waffenarsenale der nicht mehr handlungsfähigen Regierung, jeder schießt auf jeden oder erschießt ihn. Bürgerkrieg. Wie kann man in einem Dokumentarfilm davon erzählen? Wie begreiflich machen, was da passiert ist Wie vermitteln, dass das mit tradierten Verhaltensweisen zu tun hat, mit Machotum, mit Unerfahrenheit und der Hoffnung auf Wohlstand und persönlichem Ansehen innerhalb einer Gesellschaft, die auf dem Recht des Stärkeren begründet ist? Wie kann man das alles in einem Film so erzählen, dass es glaubwürdig ist, spannend bleibt und für alle – unabhängig davon, ob sie von diesem historischen Ereignis wissen oder nicht – interessant ist? Erald Dika, Regie-Absolvent der Filmschule ZeLIG aus Bozen – von der dieses Jahr etliche ungewöhnliche Filme eingereicht wurden – hat dafür nahezu alle dokumentarischen Mittel zum Einsatz gebracht: einen autobiographischen textlichen Rahmen, Interviews mit damals beteiligten Menschen, Archivmaterial und eine nahezu mystische Nachinszenierung mit Laien, die im heutigen Albanien an Originalorten mögliche Begegnungen, Verhandlungen und Beziehungen zwischen agierenden Männern in ihrem absurden Hierarchiesystem spielen. Die Montage verschränkt all das zu einem ungewöhnlichen Dokumentarfilm: NEVERLAND. Ein ungeschliffener Hybrid, getragen von ambitioniertem Gestaltungswillen. Erald Dika traut sich die filmische Genregrenzen zu überschreiten. Wir glauben, dass er daraus in seinen künftigen Filmen eine individuelle Handschrift entwickeln wird.
Drehbuch:
Driton Sadiku für DRAKULLA – ALBANIENS DRACULA
Filmakademie Baden-Württemberg
Dazu die Jury: Driton Sadikus Drehbuch DRAKULLA – ALBANIES DRACULA ist eine emotionale Zumutung. Es packt uns, lässt uns keine Sekunde aus seinem Bann und spuckt uns am Ende gebeutelt wieder aus. Es ist darüber hinaus ein Drehbuch von großer Poesie und Bildgewalt. Dass der Autor die Grauen des Balkankrieges 1913 nicht konkret erzählt, sondern anhand der Verwandlung einer traumatisierten Mutter in eine Vampirin, macht es nur noch eindringlicher. Das Knacken der Knochen und das Wegbrechen der Zähne brennt sich den Leser·innen ebenso ein wie das beständige Heulen der Wölfe und das Wimmern der Kinder. So bekommt man eine Ahnung von der ganz realen physischen und psychischen Gewalt des Krieges. Driton Sadiku erzählt mit Wucht und immer wieder auch Wärme – und anhand von Figuren, die uns nah kommen und die wir nicht vergessen werden.
Werbefilm:
A FISHED UP LIFE
Regie: Hanna Seidel (Werbefilm, 1’04‘‘)
Filmakademie BadenWürttemberg
Dazu die Jury: In A FISHED UP LIFE warnt Hanna Seidel unterhaltsam und mit hohem Wiedererkennungswert vor unbewusstem oder zumindest oberflächlichem Konsum. Dabei beweist sie nicht nur ein präzises Gespür für Humor und Timing, sondern lässt in der poppigen Ästhetik und dem hervorragenden Cast ihr hohes kreatives Potential erkennen. Hier passt einfach alles: Idee, Casting, hoher production value. Ein Spot, der im wahrsten Sinne des Wortes im Kopf bleibt.
No Fear Award für Produktionabsolvent-innen:
Pia To für TRADING HAPPINESS (Kurzspielfilm, 25‘)
Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF
Dazu die Jury: Pia To hat sich mit TRADING HAPPINESS kein leichtes Projekt als Abschlussarbeit ausgesucht. Ein Film über ein problematisches Thema in einem Land mit beschränkter Pressefreiheit. Auf den ersten Blick schwierig genug, jedoch stellten sich während des Projektes ganz andere produzentische Herausforderungen. Gedreht wurde im Norden Vietnams, wo die Logistik für Filmproduktionen im Vergleich zum Süden des Landes weniger erprobt ist. Der Cast und ein Großteil des Teams sind vietnamesischer Herkunft. Mit viel Kreativität, interkultureller Arbeit und unerschütterlichem Glauben an den Film gelang es der Produzentin ein Team zu formen, das trotz sprachlicher Barrieren Hand in Hand ging und gemeinsam mit produktiven und außergewöhnlichen Lösungen diesen wunderbaren Film geschaffen hat.
Michael Ballhaus Preis für Kamera-absolvent-innen:
Philip Henze für TALA’VISION (Spielfilm, 28‘)
Filmakademie Baden-Württemberg
Dazu die Jury: Was braucht eine Geschichte? Dieser Frage stellt sich eine Bildgestaltung, die über die perfekte technische Umsetzung hinaus geht. In TALA‘VISION erzeugt Philip Henze Einstellungen, die sich zweifelsohne vollends der Geschichte und ihrer Hauptfigur hingeben. Der Kameraabsolvent kreiert einen intensiven Sog aus Bildern, der uns in die kleine, weite Welt der jungen und mutigen Tala eintauchen lässt. Mit einer empathischen Handkamera erleben wir, wie ein siebenjähriges Mädchen im syrischen Kriegsgebiet versucht, ein Stück ihrer Freiheit zurück zu gewinnen. Ihr kindlicher Blick, den wir mit ihr teilen, steht im Kontrast zu einer harten hoffnungslosen Außenwelt. Philip Henze schafft den Raum, der dem Schauspiel die volle emotionale Entfaltung ermöglicht, um eine sehr berührende Geschichte zu erzählen.
Publikumspreis:
HAUS KUMMERVELDT
Produktion: Lotte Ruf (Webserie, 8×10‘) Fachhochschule Dortmund
In exklusiver Kooperation mit der unabhängigen Streamingplattform behind the tree und dem Lodderbast Kino hat FIRST STEPS die „Langen Nächte des jungen Films“ präsentiert. Die im Rahmen dieser digitalen Screening-Reihe gezeigten Filme gingen schließlich ins Rennen um den mit 1.500 Euro dotieren Publikumspreis
Fazit:
Der Nachwuchs ist so unglaublich wichtig für diese Filmbranche und daher finde ich gerade den First Steps Award echt gut. Ich würde mir nur bei der Preisvergabe wünschen, dass man nicht so extrem großen Werk auf die Kunst legt, sondern einfach auch mal die Unterhaltung und den Spaß in die Bewertung einfließen lässt. Darauf kommt es nämlich am Ende beim großen Publikum an!